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Werner Eicke-Henning veröffentlichte etwas Neues
vor 3 Wochen (bearbeitet)
Der Irrtum von der „atmenden Wand“ (Teil 3)
Die Metapher von der „atmenden Wand“ spielt in Energieberatungsgesprächen als Argument gegen die Wärmedämmung eine Rolle. Sie beinhaltet Befürchtungen hinsichtlich des Wohlbefindens und der Luftqualität, die Gefahr von Schimmelbildung sowie eingeschlossene Feuchtigkeit im Haus. Noch 1948 stellte ein Autor fest: „Man glaubt auch vielfach heute noch, daß diese „Atmung“ der Wände wesentlich zur Lüftung der Räume beitrage..“. (Sautter, 1948)
Auch bis heute hat sich daran nichts Grundlegendes verändert, aber ein langer Vortrag des Beraters wäre wohl nicht die richtige Antwort auf diese Meinung. Eine angemessene Reaktion wäre die Frage: „Atmende Wand? Da versteht jeder etwas anderes darunter, was meinen Sie konkret damit?“ Diese Gegenfrage eröffnet die Möglichkeit, einen Aspekt aus der Antwort herauszuheben, der weiter diskutiert werden kann.
Ich werde diesen „Irrtum von der atmenden Wand“ in verschiedene Beiträge aufteilen, in der Hoffnung, dass hierin hilfreiche Informationen zu finden sind.
Luftdurchgang durch Wände?
Bis zum Zweiten Weltkrieg glaubten auch große Teile der Baufachwelt an eine direkte Wandatmung durch Baustoffporen. Deshalb hieß es in der ersten DIN 4108 von 1952 noch: „4.22 Ein Atmen der Wände im Sinne einer Lufterneuerung der Innenräume findet nicht statt. Dagegen ist aus hygienischen und bautechnischen Gründen auf der Innenseite der Wände eine gewisse Aufnahmefähigkeit für Wasserdampf erwünscht; üblicher Innenputz, auch saugfähige Pappen und dgl. erfüllen diesen Wunsch (Pufferschichten).“ Der Gedanke einer atmenden Wand geht auf den Hygieniker Max von Pettenkofer zurück. Um 1850 führte er ein Experiment durch, bei dem er mithilfe eines Blasebalges durch eine Putzprobe hindurch eine Kerzenflamme umlenkte. Dieses Experiment beeindruckte Pfarrer Kneipp, der es weit verbreitete. Dass der Druck über den Blasebalg das 500-fache des Staudrucks auf die Wand bei mäßigem Wind ausmachte, wussten beide nicht. Damals begann die Hygieneforschung in Deutschland die Ursachen von Volkskrankheiten wie Cholera zu untersuchen. Man war noch nahe an der mittelalterlichen Miasmen Theorie, nach der solche Krankheiten aus schlechter Bodenluft entstehen könnten. Pettenkofer ließ die Frage offen, welchen Beitrag atmende Wände zur Verbesserung der Luftqualität in Wohnräumen leisten könnten. Es folgten verschiedene wissenschaftliche Arbeiten, die den genauen Luftdurchgang bestimmen wollten. Den Endpunkt der Debatte setzte 1923 Dr. Ernst Raisch mit seiner Dissertation „Die Luftdurchlässigkeit von Baustoffen und Baukonstruktionsteilen“. Seine theoretische Aufarbeitung und präzisen Messungen des Luftdurchgangs beendeten alle Spekulationen im Wissenschaftsbereich. Durch eine 25 cm dicke Vollziegelwand mit geweißtem Innenputz gehen pro Stunde 0,012 m³ Luft hindurch. Durch ein Schlüsselloch gingen das 50-fache an Luft pro Stunde, nämlich 0,594 m³/h (Bild 2). Leopold Sautter gab dazu 1948 ein Beispiel: „Danach ergibt sich für eine übliche Wohnraumwand· von 12 m² Fläche ein Luftaustausch von 0,14 bis 0,28 m³ in der Stunde. Dieser Luftaustausch spielt für die Lüftung keine Rolle. Denn für einmaligen Luftwechsel, das heißt, einmalige Erneuerung des Luftinhalts des Raumes in einer Stunde, sind für einen üblichen Wohnraum (je nach Größe) schon 40 bis 50 m³ Luft nötig. Dabei beziehen sich die genannten Zahlen nur auf die geputzte und geweißte Wand. Durch Ölfarbenanstrich oder Tapeten wird die Luftdurchlässigkeit noch mehr verringert. Das „Atmen“ der Wände spielt also für die Lufterneuerung keine Rolle (es erhöht nur die Wärmeverluste).“ Diese Aussage gilt auch für die heute üblichen Luftwechselzahlen von 0,5 pro Stunde. An windstillen Tagen fehlt der „Wandatmung“ der Antrieb, da auf beiden Seiten der Wand derselbe Luftdruck herrscht und ein Luftaustausch durch die Wand nur durch unterschiedliche Luftdichten bei verschiedener Lufttemperatur entsteht. Bei einem Temperaturunterschied von 30 K (20 °C Innen/-10 °C Außenlufttemperatur) besteht nur ein schwacher Druck von 0,33 kg/m² Wandfläche. Die oben genannten Luftdurchlässigkeitswerte entsprechen einem Winddruck von 1 mm Wassersäule = 1 kg/m² und damit üblichen Windgeschwindigkeiten in Deutschland. (L. Sautter, „Wärmeschutz und Feuchtigkeitsschutz im Hochbau“, Berlin 1948).
Das Ergebnis dieser präzisen Messungen: Es gibt keinen relevanten Luftdurchgang durch Wände, an den seit 1850 für etwa ein Jahrhundert geglaubt wurde. Heute ist die Meinung des direkten Luftaustausches durch Wände weniger verbreitet. Wir haben gelernt, dass Luft eher durch Fugen und Ritzen als durch Baustoffporen ausgetauscht wird und dabei Bauschäden verursacht. Die DIN 4108, Teil 7, fordert deshalb seit 1997 die „Luftdichtheit von Bauteilen“. Aber die Metapher von der „atmenden Wand“ hat nicht nur einen einzigen Inhalt, an die Stelle der Wandatmung als Beitrag zur Wohnungslüftung trat ab 1981 die „Wasserdampfdiffusion“. Mehr dazu im nächsten Beitrag.